Bis in den späten Abend hinein hatte ein begabtes und stimmgewaltiges Trio kolumbianische Schmachtlieder auf einem benachbarten Balkon unseres Hotels für ein Ehepaar geschmettert, das dort mutmaßlich seinen Hochzeitstag verbrachte. Ich fand es schön, weil ich ohnehin noch mein Film-Material der gestrigen Etappe sichtete. Meine Mitfahrer waren nach einem weiteren Abendessen aber bettschwer und beklagen sich deshalb heute Morgen während des Frühstücks über das vorabendliche Geträller. Über Kunst lässt sich eben nicht streiten. Unser Frühstück ist hier in Kolumbien immer ähnlich: frisches Obst, dazu Rührei und etwas, dass hier so bezeichnet wird, im deutschsprachigen Kulturraum aber niemals „Brot“ genannt werden würde. Kein üppiges Brunch. So kommen wir aber morgens auch nicht ins Trödeln, so dass wir schnell wieder auf den Zimmern unsere sieben Sachen zusammenraffen und um acht Uhr die Motoren anwerfen können. Unsere Motorräder sehen definitiv nach Abenteuer aus. Unter Seans 850er GS ist außerdem ein kleiner Fleck Hydraulik-Öl zu finden. Viel tropft nicht mehr, denn schon gestern während der Fahrt über die Piste mit tiefen Schlaglöchern und Bodenwellen war ihm die Dichtung des hinteren Stoßdämpfers geplatzt. Im Stehen war er immer in eine kleine Fahne aus Dampf und Rauch gehüllt, die das Öl erzeugte, das auf die heißeren Teile seines Gefährts tropfte. Für die restlichen paar Hundert Kilometer des letzten Streckenabschnittes der Vuelta Colombiana-Rundtour durch Kolumbien würde ihm zur Federung nur noch die Spiralfeder zur Verfügung stehen.
Was heute zu bewältigen war, ist mir keineswegs von Anfang an klar gewesen. Ich hatte erwartet, dass mir die Knochen, mindestens aber die Muskeln, von meinem gestrigen Ausritt auf dem Pferd noch wehtun. Das war aber gar nicht so. Wir fuhren von San Agustin aus zum Wasserfall von Mortina und besahen uns die haarsträubendsten Möglichkeiten, die Schlucht, in die er stürzt, per Drahtseil zu überqueren. Dann erwartete uns der Anstieg in die mittlere Kordillere der Anden, die wir bereits an unserem zweiten Tourtag über die Alto de Letras von West nach Ost überwunden hatten. Nun kletterten wir auf einer nassen Schotterpiste an der Flanke der Bergkette hinauf. War die Straße zunächst noch passabel, durchsetzten sie später immer größere und vor allem tiefere Schlaglöcher. Längst waren wir aus dem Sattel gegangen, um die immer heftigeren Stöße abzufangen. Mit federweichen Ellenbogen lenkten wir nur noch durch Gewichtsverlagerung auf den Fußrasten um tiefe Rinnen und Flecken von Matsch herum. Der Schotter mischte sich mit Geröll, so dass wir nicht mehr nur den Löchern, sondern auch großen Steinen mitten in der Fahrlinie ausweichen mussten. Nach einer Linkskurve zeigte sich, dass nicht nur wir Gringos mit den groben, nassen Steinen unsere Probleme hatten. Ein entgegenkommender Einheimischer rappelte sich gerade auf und humpelte nach einem Sturz zurück zu seinem auf der Seite liegenden Motorrad. Aaron stoppte und stieg ab, um dem Gestürzten zu helfen und auch andere hielten an.
Die gestrige Etappe mit den steilen, abschüssigen Dschungelwegen war anstrengend. Wir haben nun die Hälfte der Strecke zurückgelegt und heute ist ein "Ruhetag" eingeplant. Am Morgen haben wir allerdings noch keine Ahnung, dass er einer der anstrengendsten der Reise werden wird.
Dabei werden nicht einmal Motorräder eine Rolle spielen. Nach dem Frühstück fahren wir mit zwei Taxis zum archäologischen Park von San Agustin. Dort haben Bauern über große Flächen verteilt bei ihren Feldarbeiten Grabanlagen gefunden, die von großen, furchteinflößenden Steinskulpturen bewacht werden. Sie stammen aus prä-kolumbianischer Zeit, wurden also errichtet noch bevor die Spanier Südamerika erreichten. Seit 6000 Jahren leben kleine Gruppen von Menschen bereits in der Region. Welchem Volk sie zuzuordnen sind und die genau Bedeutung der Skulpturen ist unbekannt. Es finden sich aber Gemeinsamkeiten zu anderen kultischen Figuren in indigenen Kulturen Mittel- und Südamerikas. Die Vogelfigur mit der Schlange im Schnabel entdecke ich beispielsweise als einen Grabwächter, sie findet sich aber auch in der Nationalflagge Mexikos wieder, die auf aztekische Mythen zurückgreift.
Einen steilen Aufstieg auf eine Bergkuppe mit weiteren Skulpturen unterbreche ich auf halbem Wege bei einem kleinen Lokal. Ich bin die Höhe nicht gewohnt und schnell außer Atem.