Reisetagebuch

Mit dem Zug vom Atlantik an die großen Seen

Nach einem sehr ordentlichen Frühstück in einem Frühstücksrestaurant der IHOP-Kette werde ich mit dem Auto zum Bahnhof von Providence gefahren. Denn hier beginnt meine Zugreise durch die Vereinigten Staaten. Ich freue mich sehr darauf, wieder mit der Bahn zu reisen. Denn es ist nun schon eine ganze Weile her, dass ich mit einem Fernzug gefahren bin. In Folge 3 dieses Podcasts bin ich bin der Deutschen Bahn an die Nordsee gereist, um dort mit dem Segelschulschiff Alexander von Humboldt II auf Seereise zu gehen. Danach war das Tischtuch zwischen mir und der Deutschen Bahn endgültig zerschnitten und ich habe mir vorgenommen, auf dieses Chaos zu verzichten und nur noch im Ausland mit dem Zug zu fahren, wo alles weitgehend geordnet abläuft. Nach wie vor halte ich das Reisen mit der Bahn für eine der überlegenen Reiseformen, wenn der Weg das Ziel sein soll und man nicht nur von A nach B kommen möchte. Im vergangenen Jahr erzählte mir eine Weltreisende vom USA Rail Pass und welche Vorteile damit verbunden sind. Ich habe mir das angesehen und war begeistert.

Der Rail Pass ist sowas wie ein begrenztes Interrail-Ticket. Für 499 Dollar darf man einen Monat lang mit allen Amtrak-Verbindungen durch die USA fahren. Allerdings nur 10 Segmente lang. Ein Segment bedeutet: einmal Umsteigen. Also überall, wo man aussteigt oder umsteigt, hat man ein Segment verbraucht. Mit zehn Segmenten kommt man da schon ziemlich rum, aber man kann auch nicht unendlich weit fahren.   

Den ersten positiven Unterschied zur deutschen Eisenbahn stelle ich sofort beim Betreten des Bahnhofs fest: Es gibt Sitzbänke für alle Passagiere. Nicht nur Dreiersitze aus Gitterdraht mit Armlehnen, sondern lange Bänke aus lackiertem Holz. Der Bahnhof ist tadellos sauber. Im Zeitschriftenladen kaufe ich mir eine Dr. Pepper-Limonade und eine Boston-Globe-Zeitung, um die halbe Stunde zu überbrücken, bis der Zug kommt. Der Dr. Pepper-Softdrink hält sein Versprechen eines herrlich künstlichen Geschmacksvergnügens. Von der Zeitung hätte ich mir mehr versprochen. Das Format ist ohne Zweifel interessant, denn die Zeitung sieht aus, wie zwei DIN A4-Seiten, die man hochkant übereinander hält. So ist sie auch aufgeschlagen so schmal, dass man sie bequem halten und auch im Zug ohne Beteiligung des Sitznachbarn lesen kann. Inhaltlich ist sie schwach. Die Texte sind langatmig, wiederholen sich und haben geringen Nachrichtenwert. Ich quäle mich durch einige Artikel zur großen und kleinen Politik, dann verliere ich die Lust und lese die Comics auf der letzten Seite. Nicht mal die sind lustig bzw. auf dem Niveau für Grundschulkinder. Oder ich bin halt auf dem Niveau eines Grundschulkindes, dann waren es aber die raffiniertesten und subtilsten Cartoons, die mir seit der 4. Klasse in die Hände gefallen sind.

Auf welchem Gleis der Zug einfährt, erscheint erst 10-15 Minuten vor der Abfahrt auf einem Bildschirm, so dass man in der gemütlicheren Wartehalle die Zeit verbringen kann und erst kurz vorher auf den Bahnsteig geht.
Der Northeastern Regional-Zug fährt ein und ich habe freie Platzwahl.
Es dauert nicht lange, da verlassen ich den US-Bundesstaat Rhode Island und mit Connecticut durchfahre ich schon den dritten Staat auf dieser Reise. Connecticut wird geschrieben Konnektikut, aber so darf man es keinesfalls aussprechen, wenn man sich nicht der Lächerlichkeit preisgeben will. Der Name stammt von dem indianischen Wort quinnehtukqut, das die Franzosen verballhornt hatten. Das haben sie also offenbar schon damals gemacht.
quinnehtukqut bedeutet „langer Fluss (der Gezeiten)“. Das ist sehr zutreffend. Denn Connecticut hat eine lange Küstenlinie, die größtenteils an der Long Island-Meerenge entlangläuft. Im Wesentlichen blicke ich auf der Fahrt rechts in dichten, neuenglischen Wald und links auf Marschland oder das Meer.  
Doch bald wird die Bebauung dichter und ich überquere die Grenze zum Bundesstaat New York, dem vierten Staat auf dieser Reise.

Ich kann die Skyline erkennen, dann verläuft die Strecke unterirdisch. Als ich in der Pennsylvania Station wieder an die Oberfläche komme, bin ich mitten in Manhattan. 

Die Straße runter schaue ich auf das Empire State Building und auf der anderen Straßenseite ist der Madison Square Garden. Ich muss hier nichts essen, denn von gestern und aus Folge 20 dieses Podcasts habe ich noch eine Deutsch beschriftete Styroporbox mit „Steak mit Käsepommes“ dabei. Aber ich brauche etwas zu trinken, für jetzt und für die Weiterreise. Mit einem Koffer im Schlepp ist es nicht so einfach durch Manhattan zu navigieren. Außerdem ist es Mittagszeit und schon ziemlich warm. Ich laufe also im Grunde nur einmal um den Block. Aber eine Sinneswahrnehmung ist unüberriechbar: In New York wurde Cannabis entkriminalisiert und an allen Ecken und Enden riecht es hier nach Gras. An einem Kiosk, vor dem fleißig gedealt wird, kaufe ich mir Wasser und spaziere lieber zurück zum Bahnhof der Pennsylvania Station. Fußläufig ist von hier kein schönerer Ort zu erreichen, der zum Verweilen einlädt. Deshalb verbringe ich die nächste Stunde in der Monihan Train Hall der Pennsylvania Station. Dort gibt es wie teilweise auch an vielen Flughäfen Tresen, an denen man sich mit dem Laptop zum Arbeiten hinsetzen kann. Die Internetverbindung ist ausgezeichnet und man hat eine kostenfreie, saubere Toilette in Reichweite. Mehr erwarte ich von einem Bahnhof gar nicht.
Dass auch im amerikanischen Bahnverkehr nicht alles reibungslos läuft, verraten mir die ständigen Lautsprecherdurchsagen über verspätete und ausfallende Züge. Mir gegenüber sitzen zwei Frauen, die davon betroffen sind, aber es gelassen aufnehmen. Ich überlege, wie ich darauf reagieren würde, wenn nun mein Zug ausfallen würde. Überraschenderweise würde es mich nicht allzu sehr aufregen. Anders als in deutschen Bahnhöfen, wo es keine Sitzgelegenheiten gibt und man ständig angebettelt wird und auf sein Hab und Gut aufpassen muss, sitze ich hier in New York in einem abgetrennten Bereich, der nur mit gültiger Fahrkarte betreten werden darf. Hier könnte ich es eine Weile aushalten, wenn mein Zug ausfiele.
Doch der kommt pünktlich an und um zwanzig vor vier Uhr nachmittags fahre ich mit dem Zug der Lakeshore Limited Bahnlinie den Hudson River entlang, aus New York City hinaus und in den eigentlichen Bundestaat New York City hinein. Orte wie Rhinebeck, Staatsburg oder Germantown zeigen mir an, dass hier viele Deutschstämmige gesiedelt haben. Etwa 40 Kilometer vor der Hauptstadt Albany liegt der kleine Ort Coxsackie. Dem Namen nach wurde er nicht von Deutschen gegründet. Aber hier wurden im Jahr 1948 erstmal das Coxsackie-Virus identifiziert und charakterisiert. Ein Virus, dass auf dieser Reise bedauerlicherweise noch eine Rolle spielen wird. Albany liegt etwa auf der gleichen Höhe wie Boston, wo ich ja auch schon in der letzten Folge war. Aber weiter nördlich führt die Fahrt jetzt nicht mehr. Ab Albany verläuft die Strecke nach Westen in Richtung des Ontario-Sees. Ich sitze im richtigen Zug und habe viele Stunden Fahrt vor mir. Nun geht alles seinen Gang, ich muss nicht mehr wachsam sein und kann etwas dösen. Ich höre, dass wir nach Utica einfahren und einen Moment dort halten. Als ich die Augen wieder öffne, fürchte ich mit diesem Zug auch 200 Jahre in die Vergangenheit gereist zu sein. Frauen mit altertümlichen Hauben und bodenlangen Kleidern laufen mit geflochtenen Körben und durch den Gang. Ab und zu auch Männer mit Schifferkrausen-Bärten, Strohhüten und groben Latzhosen. Aber dann werde ich richtig wach und mir wird klar, wer diese Menschen sind: Die Amischen. Sie erlauben sich keine Flugreisen, aber Bus- und Bahnfahrten.

So erklärt sich also, dass ich in diesem Zug, der durch die Stammlande der Amischen fährt, mit einem Mal von diesen Menschen umgeben bin, die ich bis dahin nur aus Filmen kannte. Der bekannteste ist sicherlich der mit zwei Oscars prämierte Film „Der einzige Zeuge“ von 1985 mit Harrison Ford in der Hauptrolle.

Hinter Syracuse fährt der Zug parallel zum Ontario-See, die Bahnlinie bleibt aber immer so weit weg vom Ufer, dass ich ihn nie zu Gesicht bekomme. Dann ist es schließlich völlig dunkel, es gibt nichts mehr zu sehen und meine erste Nacht im Zug beginnt.

Related Articles

Jessica Welt

Seit etwa drei Jahren lasse ich auf meinen Reisen einen GPS-Tracker mitlaufen und füge alle zurückgelegten Routen in diese Karte ein. Strecken, die ich auf dem Landweg zurückgelegt habe, kennzeichne ich orange, welche, die ich zu Fuß gelaufen bin in grün und die, die ich auf dem Wasser per Boot oder Schiff bewältigt blau.