Es ist die erste Nacht in der Horizontalen, nachdem ich die letzten drei nur im Sitzen geschlafen hatte. Das Hostel ist so, wie man sich ein Backpacker-Hostel vorstellt: Die Waschräume sind dreckig, in den Zimmern mieft es furchtbar und die zusammengenagelten Stockbetten haben nur eine gruselige Wolldecke mit Laken. Man muss aber nur die eigenen Ansprüche weit genug herunterschrauben, um auch hier eine erholsame Nacht zu verbringen. Zum Frühstück gibt es immerhin Müsli.
Dann nehme ich an einer kostenlosen Stadtführung teil. Die gibt es mittlerweile fast überall auf der Welt. Die Stadtführer machen einen ordentlichen Job und finanzieren sich durch die Trinkgelder und hier in Seattle (wie ich es verstanden habe) auch städtische Zuschüsse. Das reicht offenbar aus.
Seattle verdankt Wachstum und Wohlstand dem Gold. Obwohl hier nie nach Gold geschürft wurde. Doch als 1848 der Goldrausch in Kalifornien ausbrach, setzte in San Francisco auch ein Bau-Boom ein. Nachdem man dort die Wälder ringsum für Bauholz gerodet hatte, boten die Wälder rund um Seattle Nachschub. Die Stämme rutschen die Hänge bis an den Hafen herunter und wurden dort auf die Schiffe verladen, um auf dem Wasserweg in die Boom-Städte Kaliforniens transportiert zu werden.
Reich wurde Seattle durch den zweiten Goldrausch am Klondike in Alaska. Die Eisenbahn war mittlerweile aus dem Osten der USA bis an den Pazifik gewachsen und Seattle war die Endhaltestelle. Tausende Goldsucher kamen also in Seattle an, um von hier mit dem Schiff diesmal nach Norden ins Yukon-Territorium zu fahren. Doch die kanadische Regierung ließ sie nur ins Land, wenn sie sich zuvor vollständige mit Ausrüstung und Proviant besorgt hatten. Denn man wollte nicht durch Tausende verhungerte Goldsucher zu Weltruhm gelangen. Diese Versorgungsgüter mussten die Glücksritter nun allesamt in Seattle zu Wucherpreisen erstehen. Die wenigsten fanden tatsächlich eine nennenswerte Menge Gold. Doch die, die erfolgreich waren, kehrten nicht selten nach Seattle zurück und investierten dort ihr neugewonnenes Vermögen.
Benannt ist Seattle nach dem Häuptling der Suquamish und Duwamish, zweier Stämme der Küsten-Salish. Er war ein bedeutender Redner, wobei viele seiner Ansprachen erst 20 Jahre mündlich überliefert wurden, bevor sie von europäischen Einwanderern in deren Sprache aufgeschrieben wurden. Doch Häuptling Seattle verfolgte die Strategie der Anpassung an die Weißen, die von jenen ausgenutzt wurde, so dass die indigene Kultur fast erlosch. Heute wächst die Zahl der Sprecher der indianischen Sprachen wieder und auch die Ortsbezeichnungen erinnern nun wieder daran, dass nicht die Europäer die ersten waren, die Land, Berge und Gewässern als erste einen Namen gaben.
Die Stadtführung endet unten an den Piers, wo einst die Schiffe mit den Goldsuchern ablegten. Die Landungsbrücken ragen dabei nicht rechtwinkelig von der Ufer Straße ins Meer hinaus, sondern schräg in einem Winkel, der dem Kurvenradius der Eisenbahnschienen geschuldet ist. Die Züge fuhren damals längs auf die Pier um Fracht auf die Schiffe zu laden und von dort aufzunehmen. Für mich bedeutet dieser Ort vor allem, dass ich nun am Pazifik angekommen bin. Es riecht nach Meer. Genau so, wie es vor drei Wochen roch, als ich am Atlantik in Rhode Island meine Reise begonnen habe. Ich habe also nun die USA auf dem Landweg durchquert!