Reisetagebuch

Lou Mitchell's ist das beliebteste Frühstückslokal im Bahnhofsviertel von Chicago
Lou Mitchell's ist das beliebteste Frühstückslokal im Bahnhofsviertel von Chicago

Chicago - Durst ist schlimmer als Heimweh

Durst ist schlimmer als Heimweh, heißt es. Nun bin ich erst einige Tage auf dieser Reise durch Nordamerika unterwegs, deswegen ist das Heimweh ohnehin noch nicht so ausgeprägt. Aber der Durst ist gewaltig. Auf Platz zwei der dringendsten Bedürfnisse kommt der Hunger. Zum Glück habe ich heute Morgen schon den Hauptbahnhof von Chicago erreicht und hier einige Stunden Aufenthalt bis zu meiner Weiterfahrt. Über die Straße rüber liegt eines der beliebtesten Frühstücksrestaurants dieser Gegend: Lou Mitchell’s.

Hier halte ich den Kellner auf Trab, indem ich immer wieder Wasser und Kaffee nachschenken lasse, ein gewaltiges Omelett verdrücke und dann sicherheitshalber noch gebratenen Speck dazu bestelle.  

So gestärkt spaziere ich mit meinem Koffer ein paar Blocks entlang des Chicago River. Hier soll die Alte Post sein und ich naives Geschöpf stelle mir vor, dass ich dort Postkarten kaufen könnte, die ich dann während der Wartezeit bis zur Weiterfahrt schreiben und noch von Chicago aus nach Deutschland absenden könnte. Wie auch in Deutschland ist die „Alte Post“ natürlich keine Post. Bei uns sind es meist gutbürgerliche Lokale, die das letzte Mal im frühen 19. Jahrhundert als Poststation zum Pferdewechsel dienten. Auch in Chicago ist die „Alte Post“ eben kein Postgebäude, sondern ein Hotel. Als ich durch die Drehtür hereinkomme genügt ein Blick auf die Rezeption, so dass ich die 360 Grad der Tür vollmache und in einem Schwung die „Alte Post“ wieder verlasse und dabei über mich selbst lachen kann.

Die Brücken über den Chicago River, der Fluss selbst und die Gebäude zu beiden Seiten erinnern mich ein wenig an die nordamerikanische Version von Danzig. Eine Weile sinne ich über Parallelen zwischen den beiden Handelsmetropolen nach. Denn die sanften Hügel des amerikanischen mittleren Westens erinnerten mich schon auf der Fahrt hierher an ihre gleichförmigen Geschwister im heute polnischen, ehemals ostpreußischen Masuren. Beide sind gleichen Ursprungs und das Ergebnis eiszeitlicher Gletschermoränen.

Der Chicago River
Der Chicago River

Bevor ich mich weiter in diese Betrachtung verspinne, komme ich aber zu einem Lebensmittelladen. Ich habe den festen Entschluss gefasst auf der folgenden Strecke nicht noch einmal dursten zu müssen. Deswegen kaufe ich mir hier gleich einen ganzen Gallonen-Kanister Trinkwasser. In einem SUBWAY-Sandwichladen kaufe ich zwei Sandwiches zum Mitnehmen und spaziere zurück zur Union Station. Die Wartehalle des Bahnhofs ist fast so hoch wie sie lang und breit ist. Auf den langen Reihen der glänzenden Holzbänke sitzen vor allem Amische in unterschiedlichen Trachten. Schon in der letzten Folge habe ich sie kennengelernt und wer wissen möchte, was es mit dieser besonderen Volksgruppe auf sich hat, sollte nochmal schnell in die Folge 21 reinhören. Hier in Chicago ist eines der wichtigsten Eisenbahndrehkreuze und so sehe ich hier Amische in ganz unterschiedlicher Tracht. Die liberaleren werden aufmerksam von denen beäugt, die der konservativeren Kleiderordnung folgen.

Eine Angestellte der Bahngesellschaft Amtrak geht unter den Wartenden herum und fragt die Reiseziele ab. Alle die mit dem Zug „Texas Eagle“ nach Süden fahren schickt sie zu einem Abgang zu den Gleisen, wo man warten soll. Es ist ein bisschen wie ein freundlicher Viehtrieb. Schließlich kommt einer der Amtrak-Cowboys und geleitet alle Passagiere des Texas Eagle persönlich ans Gleis. Dort steht der Texas Eagle-Zug schon bereit. Die Waggons glänzen in ihrer blanken Aluminiumoberfläche und sind so hoch wie ein zweistöckiges Haus.

Der Amtrak Superliner ist so hoch wie ein zweistöckiges Haus
Der Amtrak Superliner ist so hoch wie ein zweistöckiges Haus

An der Waggon-Tür steht wiederum eine Amtrak-Mitarbeiterin und gibt per Hand die Sitzplatzkarten auf einem schmalen Papierstreifen aus. Unten im Waggon sind die Toiletten und die Gepäckregale. Dann geht es eine steile Treppe hoch und oben ist der geräumige Passagierbereich. Links und rechts des Mittelganges gibt es jeweils zwei Sitze nebeneinander. Darüber befinden sich weitere Staumöglichkeiten für das Handgepäck. Die Rückenlehne der Sitze lässt sich fast genausoweit zurückstellen wie ein Liegestuhl. Zusätzlich kann man auch noch ein Fußteil horizontal hochklappen, auf dem man die Beine ablegen kann. Für die nächsten 24 Stunden werde ich es mir hier gemütlich machen. Die Voraussetzungen dafür sind günstig. Um halb zwei mittags verlässt der Texas Eagle die Chicago Union Station. Morgen um die gleiche Zeit wird er Fort Worth in Texas erreichen.

Sitzplätze wie ein Liegestuhl
Sitzplätze wie ein Liegestuhl

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Jessica Welt

Seit etwa drei Jahren lasse ich auf meinen Reisen einen GPS-Tracker mitlaufen und füge alle zurückgelegten Routen in diese Karte ein. Strecken, die ich auf dem Landweg zurückgelegt habe, kennzeichne ich orange, welche, die ich zu Fuß gelaufen bin in grün und die, die ich auf dem Wasser per Boot oder Schiff bewältigt blau.