Reisetagebuch

Lou Mitchell's im Bahnhofsviertel von Chicago

Chicago - Durst ist schlimmer als Heimweh

Durst ist schlimmer als Heimweh, heißt es. Nun bin ich erst einige Tage auf dieser Reise durch Nordamerika unterwegs, deswegen ist das Heimweh ohnehin noch nicht so ausgeprägt. Aber der Durst ist gewaltig. Auf Platz zwei der dringendsten Bedürfnisse kommt der Hunger. Zum Glück habe ich heute Morgen schon den Hauptbahnhof von Chicago erreicht und hier einige Stunden Aufenthalt bis zu meiner Weiterfahrt. Über die Straße rüber liegt eines der beliebtesten Frühstücksrestaurants dieser Gegend: Lou Mitchell’s.

Eine Industrieruine des amerikanischen Rust Belt

Amerikas rostige Gürtellinie

Über Nacht hat mein Zug die Niagara-Fälle an der Nahtstelle zwischen dem Ontario- und Erie-See passiert und auch das kleine Stück Pennsylvania durchfahren, das an den See grenzt. Als ich die Augen öffne, passieren wir gerade Cleveland in Ohio. Das ist der sechste Bundesstaat auf meiner Reise. Nur wenig später fahren wir auch durch Indiana, dem siebten Staat, erreichen mit Illinois den achten Staat und kommen am Lake Michigan an. Die Region, die ich in den letzten 24 Stunden durchfahren habe, nennt man in den USA den Rust Belt, also auf Deutsch den Rostgürtel. „Rostig“ wegen der niedergegangenen alten Stahlindustrie. Der Nordosten der USA entlang der Großen Seen von Chicago über Detroit, Cleveland, Cincinnati und Pittsburgh bis an die Ostküste zu den Ausläufern der Metropolregionen Boston und Washington, D.C. hieß früher noch Manufacturing Belt, also frei übersetzt Industriegürtel. Es ist die älteste und größte Industrieregion der USA. Sie entstand ab der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Erschließung der Steinkohle- und Erzreviere in den Appalachen und der Eisenerzvorkommen am Ohio River. Dazu kam die beginnende Erdölförderung in Pennsylvania. Vorangetrieben wurde die Entwicklung des Manufacturing Belt vom starken Ausbau des Eisenbahnnetzes der USA. Die Bahnstrecke, die ich heute Nacht befahren habe, ist eine der Lebensadern dieser frühen amerikanischen Verbundindustrie. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte der Manufacturing Belt seine volle Größe entfaltet; die am westlichen Ende gelegenen Großstädte Chicago und Milwaukee waren in dieser Zeit Zentrum der Lebensmittelindustrie, während sich die aufkommende Automobilindustrie auf Detroit und die Stahlindustrie auf Pittsburgh konzentrierte. Bis in die frühen 1970er Jahre war die Region das mit Abstand größte Industriegebiet der Vereinigten Staaten und eines der größten weltweit.
Am Zugfenster zieht vor mir eine Art rostbraunes, schwerindustrielles Disneyland vorbei mit gewaltigen von grünen Ranken bewachsenen Anlagen. Im Zwielicht der Morgendämmerung wirkt es auf mich wie eine andere Welt.
Doch als die Sonne etwas höher steht beginnen die Vororte von Chicago und im Dunst kommt auch die Skyline der Metropole am Lake Michigan in Sicht. Schließlich fährt unser Zug unter die Erde und in den Hauptbahnhof von Chicago ein.

Mit dem Zug vom Atlantik an die großen Seen

Nach einem sehr ordentlichen Frühstück in einem Frühstücksrestaurant der IHOP-Kette werde ich mit dem Auto zum Bahnhof von Providence gefahren. Denn hier beginnt meine Zugreise durch die Vereinigten Staaten. Ich freue mich sehr darauf, wieder mit der Bahn zu reisen. Denn es ist nun schon eine ganze Weile her, dass ich mit einem Fernzug gefahren bin. In Folge 3 dieses Podcasts bin ich bin der Deutschen Bahn an die Nordsee gereist, um dort mit dem Segelschulschiff Alexander von Humboldt II auf Seereise zu gehen. Danach war das Tischtuch zwischen mir und der Deutschen Bahn endgültig zerschnitten und ich habe mir vorgenommen, auf dieses Chaos zu verzichten und nur noch im Ausland mit dem Zug zu fahren, wo alles weitgehend geordnet abläuft. Nach wie vor halte ich das Reisen mit der Bahn für eine der überlegenen Reiseformen, wenn der Weg das Ziel sein soll und man nicht nur von A nach B kommen möchte. Im vergangenen Jahr erzählte mir eine Weltreisende vom USA Rail Pass und welche Vorteile damit verbunden sind. Ich habe mir das angesehen und war begeistert.

Jessica Welt

Seit etwa drei Jahren lasse ich auf meinen Reisen einen GPS-Tracker mitlaufen und füge alle zurückgelegten Routen in diese Karte ein. Strecken, die ich auf dem Landweg zurückgelegt habe, kennzeichne ich orange, welche, die ich zu Fuß gelaufen bin in grün und die, die ich auf dem Wasser per Boot oder Schiff bewältigt blau.